Ein Hörspiel ist die Musik, kein Schauspiel.
Doch kann es faszinieren, einem Musiker (einer Musikerin) zuzuschauen bei der Erzeugung von Tönen, der Ausstattung eines Klangraums, dem Aufbau eines akustischen Gebäudes. Besonders gilt dies für Pianisten. Da gibt es die emsigen Arbeiter am Klavier und die dämonischen Virtuosen, die kecken Kämpfer und die Kontemplativen, die physisch in den Klängen zu versinken scheinen oder mit ihnen aufzusteigen in das Geisterreich des Unendlichen, wie E. T. A. Hoffmann die Musik genannt hat. Das alles hat wohlgemerkt nicht unbedingt mit dem Hörerlebnis zu tun. Zwischen Augenschein und Ohrenweide gibt es keine festen Entsprechungen. Die Musik des Tastenarbeiters muss nicht brav klingen, die des Virtuosen nicht furios. Im Gegenteil gibt es da häufig Überraschungen, und manchmal sehr schöne.
Mit Michèle Gurdal kann man schöne Überraschungen erleben. Wenn sie vor dem Flügel Platz nimmt, zierlich und hübsch wie sie ist, erwartet man nichts Unerhörtes, freilich auch nicht das Gegenteil. Sie könnte sich ebenso an eine Kaffeetafel setzen, so unpreziös wirkt sie und aufgeräumt und gleichmütig darauf gefasst, was folgen soll.
Was folgt, sobald sie zu spielen beginnt, ist ein Feuer, ein helles, kontrolliertes Feuer, das – wie Ernst Bloch über Otto Klemperer gesagt hat – genau brennt.
Da entäußern sich von der ersten Note an Leidenschaft und eine Kraft, die man dieser jungen Frau nicht sogleich ansieht.
Michèle Yuki Gurdal wurde als Tochter eines belgischen Piloten und Musikliebhabers und einer japanischen Künstlerin in der Nähe von Brüssel geboren.
Mit sechs Jahren entdeckte sie die Welt der Musik. So gründlich, dass sie sich schon bald nicht mehr mit dem Spielzeugklavier begnügen wollte. Die Eltern hatten ein Einsehen, ein veritabler Flügel wurde besorgt, und sie wurde nicht enttäuscht: Mit neun Jahren trat das Mädchen mit Haydns D-Dur-Konzert im belgischen Fernsehen auf, begleitet vom Belgischen Kammerorchester.
Acht Jahre später, mit 17, schloss sie ihr Studium am Conservatoire Royal de Bruxelles in den Fächern Klavier, Kammermusik und Musikgeschichte mit dem Diplom de Premier Prix ab.
Die Zeit war reif für akademische Meister: Karl-Heinz Kämmerling (Hannover), der ihr Stilsicherheit und Achtung vor dem Urtext eines Werks vermittelte; Homero Francesch (Zürich), dessen Präzision und Eleganz sie prägten; Anatol Ugorski (Detmold), der ihr Verständnis für die Untrennbarkeit von geistiger Durchdringung und emotionaler Empfindung in der Musik verfeinert hat. Und den Sinn für Eigensinn. Drei große Lehrer, drei Bestnoten am Ende.
2005 wurde Michèle Gurdal Stipendiatin der ehrwürdigen International Piano Academy Lake Como. Hier arbeitet sie nach wie vor mit Dmitri Bashkirov, Leon Fleischer, Menahem Pressler, Fou Tsong, William-Grant Naboré, Andreas Staier, John Perry und Claude Franck.
Außerdem bekam sie ein Stipendium der Stiftung Wilhelm Kempff, um – gemeinsam mit John O’Connor – das Werk Ludwig van Beethovens vertiefend zu studieren.
Ihre Klasse bestätigte die Pianistin bei zahlreichen Auftritte in ihrem Heimatland und darüber hinaus: in Deutschland, Frankreich, Holland, der Schweiz, Italien, Spanien, England, Kanada und den USA. Doch Länder besagen manchmal wenig; aussagekräftiger sind die Anlässe und Orte der Auftritte: Schleswig-Holstein Musikfestival, Klavierfestival Ruhr, Tonhalle Zürich, Oetkerhalle Bielefeld, Theater Ghione Rom, Église de Saint-Germain-des-Prés Paris, Mendelssohnsaal des Gewandhaus Leipzig… Dazu kommen seit 2007 kammermusikalische Auftritte mit dem Ensemble Cosmopolitan.
Zeit also für eine CD, das heißt für eine bleibende Bekundung ihrer Musikalität und Virtuosität. Dass Michèle Gurdal hierfür die 24 Préludes ausgewählt hat, das eine Mal gestaltet durch Frédéric Chopin, den Romantiker, das andere Mal durch Alexander Skrjabin, den Mystiker, ist gewiss Ausdruck ihrer musikalischen Präferenzen. Es ist auch die Konsequenz ihrer Neugier auf den Zusammenhang und die Unterschiede zweier Bewältigungsweisen der Tonalität in Dur und Moll in der abendländischen Musik. Skrjabin, der Jüngere, schon am Ausgang des tonalen Zeitalters schaffend, arbeitet sich am Vorgänger Chopin nicht nur ab, sondern schlägt neue, kühne Wege vor, die dem feinsinnigen Vorgänger noch undenkbar waren, so wie dieser auf seine Weise das Urbild aller „24“ überschreitet, doch nirgends verrät: Johann Sebastian Bach und sein „Wohltemperiertes Clavier“.
Michèle Gurdal nimmt sich der zweifachen Préludes auf ganz persönliche Weise an: mit eigenen Augen und eigenen Ohren. Auch mit dem ihr eigenen kompetenten Wagemut. Denn diese Stücke erfordern mehr als Fingerfertigkeit an den schwarz-weißen Tasten. Sie verlangen zudem Fingerspitzen- gefühl, im übertragenen Sinne musikalischer und interpretatorischer Intelligenz.
Doch höre man selbst – und lasse sich überraschen.
Dr. Ulrich Kahmann